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Pendeln Teil 3 – Der Fußweg

Last updated on 6. Februar 2023

Runter vom Bahnsteig, ran an die Straße

Da ich nicht am Bahnhof arbeite, muss ich den restlichen Arbeitsweg zu Fuß hinter mich bringen. Zunächst muss ich also vom Bahnsteig runter. Wenn ich die Treppe gefunden habe, muss ich diese einfach erstmal hinuntersteigen. Das ist für mich kein Problem, manchmal jedoch in der Vorstellung der anderen Fahrgäste. Wenn man nichts mit Blinden zu tun hat, ist es offenbar schwer vorstellbar, dass ich unfallfrei die Treppe hinunter komme. Gelegentlich werde ich darauf hingewiesen: „Achtung, Treppe!“ – „Geht das alleine?“ – Gut, dafür habe ich meinen Stock und habe trotz Treppen auf meinen Wegen über 40 Jahre überlebt. Das sage ich natürlich nicht, da es einfach nur Unwissenheit ist. Das geht einigen von Euch ja wahrscheinlich auch so.

Wenn ich den Bahnhof verlassen habe, steht gleich die nächste herausforderung an. Ich muss die Ampel finden, die mich Richtung Innenstadt über die Hauptstraße führt. Dafür muss ich um eine Kurve, die zum Schluss an der Hauptstraße entlang führt. In diesem Bereich kann ich die Häuserwand kaum zur Orientierung nutzen. Deshalb versuche ich den Abstand zur Wand akustisch abzuschätzen. – Man kann Widerstände zum Teil hören, und Häuserwände gehen meistens ganz gut. – Wenn das nicht klappt, bleibt immer noch der Bordstein als Leitlinie. Bordsteine sind für mich eine wichtige Orientierungshilfe, was bei Sehenden aber oft für halbe Herzinfarkte sorgt. Wenn ich nämlich – gezielt – einem Bordstein nahe komme, haben immer wieder Passanten Angst, dass ich auf die Straße laufen könnte. Für mich ist hier der Nutzen zur Orientierung deutlich größer als die reale Gefahr.

Straßenüberquerung und ihre Tücken

Wenn ich nun die Kurve bewältigt habe und die Ampel anpeile, gibt es weitere Herausforderungen. Zu meiner Pendelzeit stehen natürlich wieder mehrere Menschen an der Ampel. Nun ist es eine Kunst, die Leute nicht umzurennen und möglichst nah an den Ampelpfosten zu kommen. Für mich wäre es gut, wenn ich ihn sogar erreichen könnte. Zum einen kann ich dadurch den für mich wichtigen Knopf an der Unterseite der Ampel drücken. In diesen Momenten sagen die Leute manchmal „Wir haben schon gedrückt!“ und meinen einen seitlich angebrachten Drücker. Dieser hilft mir nicht, da dieser nur das Signal für Fußgänger anfordert. Um zusätzlich einen Piepton oder eine Vibration bei Grün auszulösen, gibt es bei vielen Ampeln noch einen Knopf an der Unterseite. Außerdem befindet sich an der Unterseite ein Pfeil auf dem Knopf, der mir die Überquerungsrichtung zeigt. Gerade rüber ist nicht immer ratsam.
Häufig komme ich nicht bis zum Ampelpfosten und muss mich auf die anderen Passanten verlassen. Zum Einen ist es unwahrscheinlich, dass sich alle Pendler gleichzeitig umbringen wollen. So kann ich mich also auch ohne Ampelkontakt recht zuverlässig darauf verlassen, wann ich überqueren kann. Sicher fühlt sich das aber nicht an. Darüber hinaus muss ich mich versuchen an der Laufrichtung der anderen zu orientieren. Normalerweise stehe ich bei viel Verkehr nämlich rechts vom eigentlichen Übergang, so dass ich erstmal die Richtung finden muss. Andernfalls würde ich ungewollt gegenüber in die Straße oder mitten auf die Kreuzung laufen. Ohne zu sehen kann ich mich ja nicht an der gegenüberliegenden Straßenseite orientieren.

Auf Tuchfühlung und im Slalom zur Arbeit

Wenn ich die Straße überquert habe, ist es dennoch einige Meter bis zur Häuserwand, an der ich entlang laufen kann. Es ist für mein sehendes Umfeld irritierend, wenn ich direkt auf die Häuserwand zusteuere. Hier haben sie Angst, dass ich gegen die Wand laufe. Für mich ist es jedoch wichtig den Kontakt zur Wand zu bekommen, um mich daran akustisch orientieren zu können. Sie ist akustisch und mit meinem extrem rudimentären visuellen Wahrnehmungsvermögen so deutlich, dass ich ein kleines Stück entfernt an ihr entlang gehen kann und rechtzeitig merke, wo sie aufhört. Dort biege ich ein und orientiere mich weiter an ihr Richtung Innenstadt. Ganz einfach ist es auch dann nicht, da ich mich nicht direkt an der Häuserwand orientieren kann. Sie gehört zu einem Geschäft mit Vorbauten, die man umgehen muss. Auf meiner anderen Seite zur Straße hin befindet sich eine Bushaltestelle inklussive Bushaltestellenschild. Hier muss ich anhand meines Gefühls aufgrund von Erfahrung, Boden- und Schallveränderungen versuchen unbeschadet durchzukommen. Für die Details habe ich schließlich meinen Stock als größte Hilfe. Wenn man sieht, kann man Hindernissen relativ weiträumig aus dem Weg gehen. Das kann ich nicht, da ich oft den direkten Kontakt zu den Hindernissen brauche, um einen Weg dran vorbei zu finden. Viele können das nicht mit ansehen und rufen „Weiter rechts!“ – „Achtung!“ – „Links!“ usw. Das ist zwar sehr lieb gemeint, hilft mir aber nicht.

Auf meinem weiteren Arbeitsweg sind die Straßenüberquerungen nicht gerade. Dadurch muss ich mich immer wieder neu ausrichten und erneut teilweise auf Häuserwände zulaufen. Wieder problematischer für die anderen als für mich, deren Unsicherheit macht mich aber nervös. Die Bordsteine befinden sich auf Straßenniveau, so dass ich diese nicht mitbekomme. Für Rollstuhlfahrer super, für mich als Blinder bescheiden. So laufe ich Gefahr, ohne es zu wissen auf der Straße zu stehen.

Auf der Zielgeraden

Wenn ich im Zentrum angekommen bin, wird es noch einmal interessant. Hier folgen drei Plätze aufeinander. Was ist für Plätze spezifisch? Richtig! Sie sind weitläufig. Die Häuserwände können mir nicht als Orientierung dienen, da sie zu weit auseinander stehen. Bordsteine gibt es auf Plätzen auch selten. Mir bleibt also nur der Weg mitten rüber – Augen zu und durch. Glücklicherweise habe ich eine gute räumliche Orientierung und komme dank ihr meist gut und heil an. Hier nehme ich Orientierungspunkte wie Blumenkübel oder Baumeinrandungen zu Hilfe.
Noch spannender wird es, wenn auf den erwähnten Plätzen Markt ist. Dann besteht die zusätzliche Herausforderung darin, den Weg zwischen den Ständen hindurch zu finden. So schön Markt ist, Spaß sieht anders aus.

Nach den Plätzen habe ich nur noch die Einmündung zu einer kleinen Straße zu finden. Hier gibt es wieder das alte Problem mit der Orientierung an der Hauswand. Ich laufe erstmal direkt darauf zu. Danach noch einmal rechts und einmal links und ich bin da. Nur noch ist gut, weil in einer alten Innenstadt die Straßen nicht gerade sind. Das lässt die Orientierung wieder schwieriger werden. Am Ende bin ich da.

Schlussendlich

Vielleicht versteht Ihr ein wenig besser, wieviel anstrengender so ein Arbeitsweg sein kann. Anstrengender, weil man den Weg nicht sieht und damit den Überblick nicht behalten kann. Auf meinem Weg muss ich auf vieles achten und Konzentration investieren, bevor ich schließlich bei der Arbeit eintreffe. Vielleicht könnt Ihr Euch auch vorstellen, dass der Rückweg nach acht Stunden Arbeit und erschöpft nicht leichter wird. man kann dann nicht mehr hochkonzentriert sein, wodurch Fehler wahrscheinlicher werden. Wehe, dass man ein Schild umrennt, doch einen Fuß auf die Straße setzt oder ganz gefährlich am Bahnsteig unkonzentriert ist. Ich kann das glücklicherweise meist kompensieren. Bspw. ist eine langsamere Fortbewegung in einem solchen Fall hilfreich.
Das war meine kleine Reise zur Arbeit.

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Veröffentlicht in Unser Alltag ... und sonst so?

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