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Orientierung von Blinden

Vorabüberlegungen

Wie orientieren sich Blinde und was steht ihnen mitunter gehörig im Wege?
Wenn man sich diese Frage stellt, kann man zunächst fragen: Wie orientieren sich Sehende? Ist es das grüne Haus an der Ecke? Ist es das Straßenschild „Im Loch“? Oder doch der Baum mit den vielen Äpfeln im Vorgarten? Manchmal auch: War ich hier schon mal?
Ihr seht vielleicht schon, was ich meine. Selbst die verschiedenen sehenden Menschen orientieren sich nicht alle gleich. Bei Blinden kommt hinzu, dass jeder das fehlende Sehen mit einem anderen Sinn auf eine etwas andere Weise kompensiert. Außerdem muss man auch bedenken, dass sich selbst sehende Menschen auf andere Sinne beziehen. Diese Eindrücke nutzen sie nicht hauptsächlich zur Orientierung, wie es vielleicht bei Blinden der Fall ist. Auch Sehende bemerken „Hier riecht es nach Kaffee!“, „Da spielt die Musik des Kinderkarusells“, oder „Die Luft schmeckt salzig!“ Für Menschen ohne Sehvermögen sind diese Faktoren wichtig. Sie liefern ihnen Anhaltspunkte für die Orientierung.

Meine Orientierung

Bei mir ist es so, dass ich noch visuelle Reize ohne konkretes Erkennen habe. Ich erkenne auch kein Licht mehr. Bei großen Dingen bekomme ich visuell noch mit: „irgendwas ist da!“ oder „irgendwas verändert sich da!“ Darauf kann ich mich keineswegs verlassen. Trotz einer vagen Ahnung muss ich nämlich raten: „Was ist da los?“. Meistens helfen mir meine visuellen Reize gar nichts, da nicht alle äußeren Bedingungen dafür stimmen. Das kann gewaltig schiefgehen. Beispielsweise freute ich mich vor einigen Jahren darüber, dass das Hindernis in der Einfahrt zu meinem Haus verschwunden war. So konnte ich endlich wieder gewohnt schnellen Schritts die Auffahrt herunterlaufen. Dumm war nur, dass da am Vortag offenbar noch ein Bagger gestanden hatte, der dort nicht mehr stehen konnte. Weil … nun ja … da gar nichts mehr stehen konnte. Der Bagger hatte anscheinend sein Werk getan und ein Loch gegraben. Um Euch zu beruhigen, ich bin zügig und heil wieder rausgekommen. Aber erstmal ging es abwärts.

Nun gut, wie orientiere ich mich? Das ist tatsächlich ganz schwierig zu beschreiben. Es ist ein Zusammenspiel aus visuellem Erahnen, auf Geräusche in meinem Umfeld hören und mit meinem Stock, den Füßen oder sonstigen Körperteilen tasten. Viel mache ich auch über meine gute räumliche Vorstellung und über Erfahrungswerte. Wenn ich an einer Straße entlang laufe, stehen nun mal auf der einen Seite Gebäude. Auf der anderen befindet sich der Bordstein, an dem oft Autos parken oder eben jenseits dessen fahren. Bei bevölkerten Gebieten begegnen mir natürlich auch Fußgänger, die in der Regel nicht massenhaft auf der Straße laufen. Wenn doch, bin ich vermutlich auf einer Demo oder in einer Fußgängerzone. Vielleicht auch beides.

Orientierung von Blinden im Allgemeinen

Die wichtigsten Orientierungspunkte sind tatsächlich Gebäude, Zäune oder Bordsteinkannten. Man spricht dabei auch von innerer Leitlinie – Gebäude, Zäune oder Ähnliches – und äußerer Leitlinie – hauptsächlich Bordsteine. In der Mitte eines Gehwegs zu laufen scheint zwar von vielen sehenden Mitmenschen gewünscht zu sein, funktioniert für einen Blinden mit Stock jedoch nicht. Es geht einigermaßen über das Schätzen von Entfernungen zu Wänden oder Begrenzungen, klappt aber nicht sicher. Ich persönlich brauche zur Orientierung genau solche harten Fakten. Ich lande in der Regel schon nicht wie bei Tom und Jerry vor der Wand. Die Wand dient dabei nur zur Orientierung. Ich renne auch nicht regelmäßig todesmutig auf die Straße, aber ich brauche unter Umständen den Bordstein zur Orientierung, um eben nicht auf die Straße zu laufen.

Wie nimmt man ohne visuelle Reize Wände wahr? Ganz einfach: über die Akustik. Ein Widerstand reflektiert den Schall hörbar, wodurch sich die Akustik der Umgebung verändert. Die Extremform kennt schon jedes Kind in einem Tunnel oder in einer Unterführung. Dort hallt es ganz anders.
Gute Indizien liefern auch die Untergründe. Klar, es gibt die mittlerweile weit verbreiteten Leitstreifen am Boden. Mit ihren Rillen und Noppen stellen sie wichtige Anhaltspunkte für die Orientierung dar. Darüber hinaus gibt es auch natürliche Merkmale. Bei Bedarf achte ich deutlich mehr darauf, ob es hoch oder runter geht, ob sich das Pflaster verändert, der Bordstein eine Kurve beschreibt oder mir die Grundstücksmauer plötzlich sehr nah kommt. Diesbezüglich ist aber auch jeder Blinde anders. Ich Orientiere mich eher an groben Änderungen – mir fehlt da etwas die Feinfühligkeit. Meine Frau nimmt deutlich geringere Veränderungen wahr. Bei mir muss es da eher der Bordstein oder die Grundstücksmauer sein, während sie auf Kleinigkeiten wie kleine Bodenveränderungen achtet. Das kann auch anstrengend sein, wenn man so komplett unterschiedliche Hinweise wahrnimmt und gemeinsam unterwegs ist. Ganz besonders in neuem Gelände.

Ein paar Beispiele zum Schluss

Gute Hinweise bekommt man, wenn man aufmerksam auf seine Umwelt achtet. Zum Beispiel wenn man fünf Meter vor sich jemanden reden hört, das Klappern eines Schlüssels, dort die Pizzeria riecht usw.
Lauft einfach mal mit wachen Sinnen durch die Stadt. Ihr werdet staunen, was man alles wahrnehmen kann. Vielleicht mögt Ihr von Euren Erfahrungen hier sogar berichten und einen Kommentar schreiben.

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Veröffentlicht in Wissenswertes rund um Blindheit und Inklusion

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