Last updated on 14. März 2023
Zusammenfassung
Ich erzähle von meiner Erblindung über die Schwierigkeiten rund um meine Einschulung, Schulzeit und die persönliche Neuausrichtung.
Ich bin heute ein Mensch, der seine Blindheit als eine von vielen gleichwertigen Eigenschaften ansieht und gut mit ihr lebt. Und doch hat sie mich in meiner Entwicklung und meinen Ansichten durchaus mehr geprägt als andere meiner Wesenszüge. Aber nicht nur sie. Und genau davon will ich erzählen, damit Ihr ein wenig wisst, mit wem Ihr es zu tun habt.
Die ersten zwanzig Jahre meines Lebens habe ich in Süddeutschland nicht weit von der österreichischen Grenze entfernt gelebt. Dort wuchs ich mit meiner Mutter und meiner älteren Schwester auf. Meinen Vater kannte ich bis ins Erwachsenenalter nicht. Brauchte ich auch nicht, wie ich in der Grundschule so gern sagte: „Ich brauch keinen Papa. Ich hab doch eine Mama!“ So einfach ist die Welt von Kindern.
Meine Erblindung
Im Säuglingsalter wurde bei mir ein bilaterales Retinoblastom festgestellt. Zu Deutsch: ein bösartiger Netzhauttumor, der beide Augen betraf. Innerhalb von dreieinhalb Jahren erblindete ich auf beiden Augen und lebe seitdem mit Glasaugen.
Die Ärzte hatten meiner Mutter frühzeitig erklärt, dass ich vermutlich blind werden könnte. Und – wie auch immer ihr das gelungen ist -, sie hat es mir eindrücklich genug vermitteln können. Bis zu meiner Erblindung habe ich sehr intensiv gesehen: möglichst viele Farben und Formen wahrgenommen und so viele visuelle Eindrücke wie ich konnte in mich aufgenommen. – Heute kann ich mir Farben zwar nicht mehr aktiv vorstellen, kann sie aber zuordnen und weiß oft um ihre Zusammensetzung. Außer es handelt sich um komplexe oder neuartige Farben, die meine kindliche Erinnerung überfordern.
Nach der letzten OP brauchte ich ungefähr ein Jahr, um mich mit meiner neuen Realität abzufinden. Es gab viele „Wieso?“ und „Warum ich?“. Aber es kostete meine Mutter noch mehr Energie mir zu erklären, dass ich durch die Erblindung grundsätzlich nichts verlernt hatte. Nur musste ich es jetzt hinbekommen, ohne hinzusehen. – Insbesondere war ich davon überzeugt, ich müsste wieder gefüttert werden und könnte mir die Schuhe nicht mehr allein zubinden. Von diesem Irrglauben kurierte mich meine Mutter anfangs mit viel Unnachgiebigkeit, da ihre Großmutter im Erwachsenenalter hochgradig sehbehindert gewesen war. Somit wusste sie, wieviel man trotz wenig visueller Wahrnehmung schaffen konnte. – Diese Überzeugung hat sie während meiner ganzen Kindheit und Jugend beibehalten und mich dadurch oft durch eine sehr harte Schule gehen lassen. Letztlich zwar oft nicht zu meinem Nachteil, aber häufig sehr anstrengend.
Meine Schulzeit
Mit ungefähr fünf Jahren wollte ich es meiner Schwester gleichtun und in die Schule gehen. Ich sah überhaupt nicht ein, warum ich noch zu Hause bleiben musste. Meine Schwester hatte mir vor meiner Erblindung auf einer kleinen Tafel die großen Druckbuchstaben beigebracht. So hatte ich fließend meinen Vornamen schreiben und im kleinen Rahmen auch einige Buchstaben lesen gelernt. Nach meiner Erblindung war meine Wissbegierde so groß geworden, dass ich nun auch selbst lesen und zur Schule gehen wollte. Also unternahm meine Mutter zweierlei: Sie brachte sich anhand eines Buches erst selbst die Braille- oder auch Blindenschrift bei und bemühte sich um meine baldige Einschulung. – Mit Unterstützung eines selbst blinden Pädagogen vom nahe gelegenen Kinderzentrum konnte ich mit sechseinhalb Jahren fließend lesen und nach Gehör schreiben.
Der Kampf um meine Einschulung
Zum damaligen Zeitpunkt war es normal, dass behinderte Kinder eine ihrer Behinderung entsprechende Schule
besuchten. Das hieß in meinem Fall also, dass ich in der nahe gelegenen Landeshauptstadt die Blindenschule besuchen würde. – Nach einer Probewoche stimmten meine Mutter und der Direktor darin überein, dass die Blindenschule aktuell für mich nicht geeignet wäre. Folglich sollte ich auf die reguläre Grundschule vor Ort gehen, die ungefähr fünf Minuten zu Fuß von unserem Wohnort entfernt war. Leider hatte meine Mutter die Rechnung ohne die zuständigen Behörden gemacht: Kurzerhand wurde der ortsansässigen Schule meine Aufnahme untersagt. Begründung hierfür war, dass sie über keine Lehrkraft verfügte, die zum aktuellen Zeitpunkt die Blindenschrift beherrschte. – Zum aktuellen Zeitpunkt bedeutete ungefähr drei Monate vor Schuljahresbeginn.
So begann für uns eine Odyssee, die meine Mutter zu allen zuständigen Behörden einschließlich Kultusministerium führte. Ich wurde zwei IQ-Tests unterzogen, wobei der IQ beide Male nur geschätzt werden konnte. – Damals gab es keine deutschsprachigen Testverfahren, die für blinde Kinder geeignet waren. Heute gibt es solche Testverfahren lediglich für Kinder, nicht jedoch für blinde Erwachsene. In solchen Tests soll unter anderem die Analysefähigkeit visueller Gegebenheiten in einer bestimmten Zeit überprüft werden. Dies funktioniert ohne Sehvermögen jedoch weder als Kind noch als Erwachsener.
Meine Mutter erhielt während ihres Ringens um meine Einschulung behördliche Auflagen. Diese setzten voraus, dass eine Schule nicht nur bereit sein musste, mich als blindes Kind zu beschulen. Vielmehr musste sie meinen Lernfortschritt gewährleisten. Vielmehr musste sich mindestens eine Lehrkraft an der Schule finden, die die Blindenschrift lesen und schreiben konnte. An der einen Schule wurde eine aufgeschlossene Lehrerin für das Thema kurz vor meiner Einschulung in die mobile Reserve versetzt. Dies bedeutete, dass sie im bevorstehenden Schuljahr keine eigene Klasse haben würde. Vielmehr hielt sie sich für den Fall bereit, dass die Lehrkraft einer Klasse krankheitsbedingt ausfiel und vertreten werden musste. Der Direktor einer anderen Grundschule erfuhr von diesen Schwierigkeiten und lehnte meine Beschulung ab. Er befürchtete zu große Repressalien für sich und seine Schule.
Wir wurden in den fast eineinhalb Jahren Kampfes um meine integrative Beschulung von verschiedenen Institutionen und Medien unterstützt: Zum Einen war da der Club Behinderter und ihrer Freunde (CBF) inklusive eines Rechtsanwalts. Zum Anderen veröffentlichten verschiedene Tageszeitungen und Wochenzeitschriften Artikel über meine Geschichte. – Im Freundes- und Familienkreis stieß meine Mutter mit ihren Bemühungen nicht immer nur auf Unterstützung. Einige meinten, sie führe einen Feldzug gegen die Behörden auf meine Kosten.
Nach beinahe eineinhalb Jahren durch alle Instanzen und nervlichen Zerreißproben für meine Mutter rief Mitte Oktober unser Rechtsanwalt an: Seitens des Kultusministeriums stand meiner Einschulung nichts mehr im Wege. So wurde ich zehn Tage später mit sechs Wochen Verspätung in eine kleine private Montessori-Grundschule eingeschult. – Einer meiner beiden Klassenlehrer hatte die Blindenschrift erlernt und sollte fortan meine schriftlichen Arbeiten lesen und korrigieren. Auch Lehrmaterial übertrugen er sowie meine Mutter mir in Punktschrift und ergänzten es – wenn nötig – mit fühlbaren Abbildungen.
Grundschulzeit
Insbesondere meine ersten drei Grundschuljahre verbrachte ich in einer sehr ausgeglichenen und harmonischen Klassengemeinschaft. Wir waren nie mehr als 25 Kinder mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, in deren Mitte meine Blindheit in keiner Form auffiel. – Versteht mich bitte nicht falsch, auffallen meine ich hier neutral: Sie war eine Eigenschaft unter vielen, von der wir alle lernten. Aber eben nicht nur von ihr und durch sie. Vielmehr entwickelten wir uns durch jeden Wesenszug und jede Eigenschaft eines Jeden in der Klasse. – Alle hatten Stärken und Schwächen, stellten Blödsinn an, feierten individuelle Erfolge und erlebten unvergessliche Momente mit den Schulfreunden.
Längst nicht alle Lernmaterialien waren damals für mich zugänglich, d.h. nutzbar. Meine Lehrer und meine Mutter unterstützten mich trotzdem so gut sie konnten. Dadurch halfen sie mir, meine Wissbegierde und den permanenten Hunger nach Neuem zu stillen. Ich merkte kaum, dass mir ein Sinn fehlte und ich nicht mit jedem vorhandenen Material arbeiten konnte.
Konkrete Beispiele
Im Werkunterricht bekam ich die gleichen Werkzeuge und Materialien in die Hand wie meine Klassenkameraden. Beim Handarbeiten ließ sich mein Lehrer adäquate Alternativen einfallen, sofern Textilien oder Handarbeitstechniken sich für mich als nicht zugänglich herausstellten. In den Kunststunden ging ich genauso mit Wachsmalstiften und Wasserfarben um. Auch lernte ich, welche Farben man mischen muss, um eine andere Farbe zu erhalten. Ich bastelte für den Martinsumzug meine eigene Laterne mit farbigem Papier. Lediglich beim exakten Ausschneiden unterschiedlicher Formen bekam ich Hilfe. Rein visuelle Techniken probierte ich nicht aus. Insbesondere das Abpausen von Bildern mittels Butterbrotpapier gehörte im künstlerischen Bereich zu diesem kleinen Anteil.
Auch die wöchentlichen Sport- sowie die monatlichen Schwimmstunden gehörten in dieser Zeit für mich zum regulären Unterricht. Die Sporthalle war einen knappen Kilometer von unserer Schule entfernt, zu der wir jeweils hin- und zurückliefen. Dabei galt unter anderem auch für mich, dass wir jeweils zu zweit liefen. In der Sporthalle lief ich je nach Unterrichtsinhalt bei meinem Lehrer oder einem Klassenkameraden an der Hand. Dabei wurde ich verbal und durch die Bewegungen des anderen auf Hindernisse oder beispielsweise am Boden liegende Matten aufmerksam. Auch hier gab es grundsätzlich nichts, woran ich mich nicht wenigstens versuchen durfte und sollte.
Gleiches galt für den Schwimmunterricht. Einzig mein instabiles Immunsystem sorgte dafür, dass ich in dieser Zeit nicht die üblichen Schwimmabzeichen erwarb.
Blindentechnischer Begleitunterricht
Ergänzend zum regulären Unterricht erhielt ich wöchentlich drei Stunden blindentechnischen Unterricht. Darin lernte ich die reformierte Blindenvoll- und -kurzschrift und die besondere Schreibweise mathematischer Zeichen in Blindenschrift. Auch die Besonderheiten des schriftlichen Rechnens in den vier Grundrechenarten in Punktschrift blieben mir nicht erspart. Wie man als Blinder gewissermaßen mit der Hand schreibt, machte mir dagegen großen Spaß. Auf die genannten Techniken werde ich zum Teil in einem gesonderten Beitrag näher eingehen.
Dies und vieles Weitere brachte mir ein Lehrer von der Blindenschule bei. Dafür kam er einmal wöchentlich brachte mir alle blindheitsspezifischen Fertigkeiten bei.
Die weiterführende Schule in der Integration
Nach dem vierten Schuljahr wechselte ich an ein kleines, privates, staatlich anerkanntes Gymnasium. Die Klassengemeinschaft setzte sich aus drei Altersjahrgängen zusammen, was neudeutsch zu einer großen Heterogenität führte. Ich gehörte zu den Jüngsten und war durch meine behinderungsbedingte und schulische Vorgeschichte durchaus sehr Mama-bezogen. Kurz und gut: Um meine Position in der Klasse stand es sehr schnell nicht zum Besten. Und bis auf wenige Ausnahmen traute sich niemand, offen mit mir etwas zu tun zu haben.
Der Lernstoff fiel mir zum Teil sehr leicht, forderte mich teilweise aber auch sehr; manchmal einfach nur durch die fehlenden Informationen aufgrund der Blindheit. Bei meinen Lehrern fand sich in Sachen Einstellung gegenüber meiner schulischen Integration alles: von enormem Engagement in der Vermittlung des Unterrichtsstoffs mit mitunter angepassten Methoden bis hin zu ausgeprägter Skepsis. Diese Lehrer befürchteten erheblichen Mehraufwands bei der Erstellung zugänglicher Lernmaterialien. Meine Mutter führte viele Telefonate und persönliche Gespräche mit Lehrern und Eltern von Klassenkameraden. Oft setzte sie mittels Scanner und qualitativ mäßiger Texterkennungssoftware bis zur eigenen körperlichen Erschöpfung Schulmaterial für mich um: Arbeitsblätter, Klassenarbeiten, sogar ganze Schulbücher.
Aus der großen Klassenheterogenität wurden erst einzelne Kabbeleien, dann schwerwiegende Probleme, letztlich handfestes Mobbing. Die Lehrer wechselten, Aufgeschlossenheit und Skepsis verschoben sich personell. Letztlich trat ich nach gut zwei Jahren den Rückzug an und wechselte die Schule. Nicht zum letzten Mal bis zu meinem Abitur.
Die folgenden Jahre bis zur 11. Klasse verliefen nach ganz ähnlichen Mustern: Entweder ich hatte Probleme mit meinen Mitschülern und ein gutes Verhältnis zu den Lehrern. Oder ich hatte eine tolle Klassengemeinschaft und Schwierigkeiten mit den Lehrern. Zu den schlimmsten Zeiten war das Verhältnis zu beiden sehr schwierig. Durch meine Pubertät und tiefgreifende familiäre Veränderungen begann der Rückhalt meiner Mutter zu bröckeln. Dadurch ließ sich die schulische Integration kaum noch aufrecht erhalten. Ich hielt noch knapp drei Schuljahre und ein Jahr in meiner eigenen Wohnung durch. Am Ende der 11. Klasse musste ich mir eingestehen: Es geht nicht mehr!
Die gymnasiale Oberstufe – Scheitern und Perspektivenwechsel
Meine Zeit in der Integration war am Ende: Das Schuljahr würde ich aufgrund miserabelster Noten nicht schaffen. Und der Direktor der Fachoberschule vor Ort hatte mir eine klare Absage zu einem Wechsel an seine Schule erteilt. Was nun? Ich wollte unbedingt Abitur machen. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich nur sehr wenige Ausbildungsberufe, die ein Blinder erlernen konnte. Geschweige denn einen, mit dem man sich seinen Lebensunterhalt sichern konnte. Aber an eine Blindenschule wollte ich eigentlich auf gar keinen Fall. Die Erfahrungen aus meiner Kindheit standen mir noch deutlich vor Augen. Und meine Vorstellungen von Internat reizten mich nicht, meine schulische Laufbahn an einer Blindenschule fortzusetzen oder sogar zu beenden.
Letztlich biss ich in den sauren Apfel und ließ mir Informationsmaterial von einem Gymnasium für Blinde schicken. Kurz danach vereinbarte ich ein Infogespräch vor Ort. Meine Einschätzung hinterher erstreckte sich von „Um Gottes Willen, niemals!“ bis zu „Naja, man kann es ja mal probieren. Ich habe ja nichts zu verlieren.“ Und so begann ein neues Abenteuer: altes Leben unter Sehenden vorbei, weg aus meiner vertrauten Umgebung und Süddeutschland … hinein ins Ungewisse!
Ich erlebte und erfuhr in den folgenden drei Jahren soviel, dass man allein damit ein Buch füllen könnte. Insgesamt kann man sagen: Natürlich war der Unterricht teilweise an die Blindheit angepasst, an anderen Stellen hätte selbst ich mehr Anpassung erwartet. Auf manche Inhalte beispielsweise wurde ausführlicher eingegangen, dafür wurde anderes weggelassen. In meinem Jahrgang gab es genauso Leute, mit denen ich mich super verstand wie auch andere. Das Konzept der Internats-WGs in der ganzen Stadt war für mich spannend und steckte voller Herausforderungen: Zwischen vier und sieben Jugendliche bzw. junge Erwachsene lebten in einer Wohngruppe zusammen – aßen, kochten oder stritten miteinander. Oder unternahmen auch mal gemeinsam etwas. Aber natürlich konnten sich einzelne auch auf den Tod nicht ausstehen.
Ich lernte in dieser Zeit keine Stadt so gut kennen wie diese und erlangte soviel Eigenständigkeit. Zu Hause wäre das für mich nicht möglich gewesen. Dort kann man viel mehr auf die Unterstützung seiner Familie zurückgreifen. Und im Zweifelsfall lässt man sich einfach von A nach B fahren. Im Internat war ich weitgehend mein eigener Herr und konnte gehen, wohin ich wollte. Ich war bereits volljährig und durfte dadurch im Grunde in der WG kommen und gehen wie ich es für richtig hielt. – Natürlich gab es Regeln und selbstverständlich informierte ich unsere Internats-Erzieher, wo ich hinwollte und wann ich zurückkommen würde. Doch meine Unabhängigkeit und mein Drang nach Selbstständigkeit hatte vorher nicht solchen Freilauf gehabt wie in dieser Zeit.
Ein anderer Ernst des Lebens
Gut ein Jahr vor dem Abitur musste ich mich der Wahrheit stellen: meine Mutter hatte psychische Probleme. Was sich vorher angedeutet hatte, zeigte sich nun mit voller Wucht. Außer meine engsten Freunde sollte niemand etwas erfahren. Sowas ging niemanden etwas an. So war ich aufgewachsen. Also versuchte ich mich aus der Entfernung zu kümmern und so gut es ging für sie da zu sein.
Meine schulischen Leistungen litten extrem unter der Situation, weil ich meine Mutter immer nur als starke, kämpferische Frau erlebt hatte. Nun rechnete ich jeden Tag mit Hiobsbotschaften, wenn ich aus der Schule kam. Dadurch fehlte mir oft die Energie, um in die Schule zu gehen oder auch nur dafür zu lernen. Ob einer meiner Lehrer etwas geahnt hat, weiß ich nicht. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, dass mich jemand nach meinen Problemen gefragt hätte.
In diesem Teufelskreis sollte ich für viele Jahre gefangen bleiben. Anderen von meinen Problemen zu erzählen, hätte Verrat an meiner Mutter und Bloßstellung ihrer Schwäche bedeutet. Ihr nicht zu helfen, ging auch nicht. Immerhin hatte sie viele Jahre alles für mich gegeben, so dass ich in ihrer Schuld stand. Also stellte ich mein eigenes Leben hintenan und kümmerte mich tagtäglich in stundenlangen Gesprächen um sie.
Diese Zeit hat einen hohen Tribut gefordert: Trotz verschiedener Anläufe schaffte ich keinen Berufsabschluss und eine partnerschaftliche Beziehung wurde auf Dauer zu sehr belastet. Zu allem Überfluss bekam die Gesamtsituation meiner Gesundheit überhaupt nicht gut. So kam es dazu, dass ich mein Leben beinahe komplett umkrempelte. Ich kehrte in die Stadt meines Abiturs zurück, fing eine neue Sportart an und lernte meinen heutigen Mann kennen.
Zum guten Schluss
Sehr vieles hat mich in meinem bisherigen Leben geprägt. Ich habe so viele Erfahrungen gesammelt, dass es durchaus für drei Leben reichen würde. Und auch wenn vieles davon anstrengend und längst nicht alles positiv gewesen ist, so hat mich jede einzelne Episode geformt. Nur durch die vielen Stolpersteine konnte ich der Mensch werden, der ich heute bin. Und insgesamt bin ich dankbar dafür!
Lasst mir gern einen Kommentar da, ob Ihr bis zum Schluss dabei geblieben seid. 😉
Hallo Nathalie!
Erstmal vielen Dank für die Einblicke in die Frühen Stadien Deines Lebens und das Vertrauen, welches Du uns Lesern entgegenbringst. Kann mir vorstellen, dass das gar nicht so einfach ist, diese ganzen Erlebnisse und Eindrücke auf ein Blog-verträgliches Maß herunter zu brechen und aufzuschreiben, zumal man ja alle Erlebnisse und Erfahrungen, seien sie positiv oder negativ, quasi noch einmal durchlebt, was einen im positiven Fall euforisieren, im Negativen hingegen sehr runterziehen kann. Von daher vielen Dank, dass Du uns mit auf diese Reise durch Dein frühes Leben genommen hast.
Die Frage Blindenschule oder integrative Beschulung stellte sich bei mir damals auch. Nachdem ich meine Kindergartenzeit mit sehenden und meine Grundschulzeit mit blinden Kindern verbracht hatte, stellte sich nun die Frage, wie meine gymnasiale Laufbahn aussehen sollte. Ein Gymnasium in meiner Heimatstadt wäre bereit gewesen, mich aufzunehmen. Wir besuchten auch mal kurz eine Klasse, um mich zum einen vorzustellen, und mir zum anderen ein Gefühl von einer „normalen“ Schulklasse zu geben, da meine bisherigen Klassen in der Grundschule für Blinde im Regelfall nicht mehr als sechs bis acht Kinder beinhalteten. Jetzt stand ich da in dieser großen Klasse und sagte „hallo“. 😉 Die Schüler*Innen machten einen netten Eindruck und ich glaube, dass sie durchaus an mir interessiert waren, wenn die Zeit auch zu kurz war, als dass ich das genauer hätte beurteilen können.
Letztlich entschieden wir uns dann doch für ein Gymnasium für Blinde, da insbesondere Meine Eltern die Sorge hatten, dass ich meinen Mitschülern irgendwann zur Last hätte fallen können und die Gefahr bestanden hätte, dass man mir zwar Anfangs vielleicht noch geholfen, mich später aber fallengelassen hätte.
Die Entscheidung für das Gymnasium für Blinde habe ich nie bereut, mir aber durchaus die Frage gestellt, wie eine integrative Laufbahn wohl verlaufen wäre. Manchmal wünschte ich, man könnte sein Leben gleich einem Adventure Game mehrmals durchspielen und abspeichern, um festzustellen, welche Entscheidung wohl die bessere gewesen wäre. Von daher finde ich es sehr interessant, dass Du quasi beides ausprobiert hast, wenn du auch mit Sicherheit gerne auf die eine oder andere Erfahrung verzichtet hättest. Trotzdem gab es ja, wie Du schreibst, gerade in Deiner Grundschulzeit auch sehr schöne und lustige Erlebnisse, auf die Du heute gerne zurückblickst.
Wie gesagt, vielen Dank für Deine Einblicke und ich freu mich schon auf weitere Beiträge!
Hallo Tobi!
Ja, das hast Du genau richtig zusammengefasst. Es war eine sehr große Herausforderung, möglichst das Mittelmaß zwischen Komprimierung und Geplauder zu erwischen. Bei Dir ist es mir schon mal gelungen. 😉 Und jeder, den ich mit meinen Zeilen ebenfalls angesprochen habe, soll das gern hier kundtun.
Ich bin heute sehr froh, beide Seiten erlebt zu haben. Ich möchte die Integration nicht missen, bin für die Erfahrungen an der Blindenschule aber auch sehr dankbar. So habe ich vor allem nochmal einen etwas anderen Umgang mit meiner Blindheit gelernt und vor allem, dass man sich wegen ihr nicht verstecken muss.
Herzliche Grüße
Nathalie